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Alt 23.10.2018, 20:08  
Otocinclus2
 
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Standard Unbekanntes Ökosystem unter unseren Füßen

In dem Unterforum "Allgemeines" habe ich ja schon hin und wieder mal über Themen geschrieben, die nicht direkt mit Aquaristik zu tun haben. Aber ich denke, nicht nur ich, sondern alle Aquarianer sind naturverbunden und schauen zumindest gelegentlich auch mal gern über den Aquarienrand hinaus.
Auch der folgende Beitrag hat mit Aquaristik direkt nichts zu tun. Außer, dass es dort um Wasser geht. Um Grundwasser. Und damit auch um unser Trinkwasser und somit auch um unser Aquarienwasser.

Nicht wenige von uns leben in Großstädten, also Städte mit 100.000 und mehr Einwohnern. Ich auch. Aber dass es unter unseren Füßen ein noch weitgehend unerforschtes Ökosystem gibt, das gerade auch in Großstädten im Zusammenhang mit der Erderwärmung besonders gefährdet ist, wusste ich bislang nicht.


Dass es in Grundwasser führenden Schichten auch Bakterien gibt (die u.a. auch für die Reinigung des Grundwassers sorgen), wird wohl nicht viele überraschen. Mich auch nicht.
Dass es dort aber darüber hinaus auch Einzeller und komplexere Lebensformen bis hin zu Krebstieren gibt, war mir bislang neu. Was vielleicht auch daran liegt, dass selbst in der Wissenschaft sich bislang nur wenige mit der Erforschung dieses weitgehend unbekannten Ökosystems beschäftigen. Um dann auch gleich feststellen zu müssen, dass es hochgradig gefährdet ist.


Auf dieses Thema bin ich mehr oder weniger zufällig gestoßen.
Hin und wieder schmöker ich gern auf spektrum.de rum, weil es dort immer wieder mal Interessantes zu lesen gibt. So auch diesmal. Wobei die Überschrift "Hitzefalle unter den Großstädten" mich zunächst mal spontan zu der Reaktion verleitete, es müsse nach diesem Sommer doch wohl in den Großstädten heißen, denn da war es ja selbst Nachts so unerträglich warm, dass man kaum schlafen konnte.

Aber nein, es war tatsächlich der Bereich unter unseren Füßen gemeint, und hier speziell die Grundwasser führenden Schichten.
https://www.spektrum.de/news/schaden...-fauna/1603656


Die Einleitung des Artikels führt dann aber schon gleich in media res und ist ebenso Interesse erweckend wie aufrüttelnd:


"Großstädte heizen sich immer mehr auf, nicht nur an der Oberfläche, sondern auch unterirdisch. Es handelt sich um den vielleicht drastischsten Eingriff in ein ebenso einzigartiges wie unerforschtes Ökosystem. Denn im Grundwasser leben echte Überlebenskünstler."


Dass es sich um ein ebenso komplexes wie anfälliges Ökosystem handelt, wissen bislang nur wenige - eben weil sich nur wenige überhaupt damit befassen.


Zitat:


"Ökologen waren anfangs überrascht, wie viel Leben überhaupt im Boden steckt. Bis vor ein paar Jahrzehnten dachten sie, dort unten könne kein Organismus überleben. Ein Irrtum, wie man inzwischen weiß.

An der Universität Koblenz-Landau sucht man seit Jahren Antworten. Am Campus Landau ist eine für Deutschland einzigartige Forschungsgruppe Grundwasserökologie mit acht Mitarbeitern beheimatet. Einer davon ist Hans Jürgen Hahn. Sein Fach ist eine ganz junge Disziplin, dunkel und mysteriös, fast wie die Tiefsee. »Wir sind die Einzigen in Deutschland, die sich mit der Grundwasserfauna beschäftigen – das ist doch traurig«, sagt er und öffnet die Tür zum Labor. Dabei gebe es so viel zu entdecken.

Im Labor wartet schon seine Kollegin Cornelia Spengler, die einige Grundwassertiere gleich in natura vorführen wird. 250 heimische Arten sind bekannt, weltweit werden 50 000 bis 100 000 Arten in Höhlen und im Grundwasser vermutet. Eine genaue Zahl kennt niemand, viele Regionen sind unerforscht. Das hat durchaus Gründe, denn in den unzugänglichen und engen Porenräumen des Untergrunds herrscht völlige Dunkelheit. Am häufigsten lassen sich noch Bakterien, Pilze, Wimperntierchen und andere Einzeller nachweisen. Die wichtigste Tiergruppe sind kleine Krebstiere vom Unterstamm der Crustacea.

Cornelia Spengler nimmt Platz am Konferenztisch, vor sich hat sie eine Kunststoffschale platziert, in dem ein possierliches Tierchen schwimmt. »Hier sehen Sie eine Grundwasserassel«, sagt sie. Die Assel ist wie alle Grundwassertiere, die man unter dem Begriff Stygobionten zusammenfasst, blind und farblos. Nur die kleinen Fettpolster schimmern weiß. Die Tiere leben in vollständiger Isolation, sie sind hochgradig spezialisiert. Es gibt dort unten kein Licht, keine Konkurrenz, kaum Nahrung oder Sauerstoff, ihr Stoffwechsel ist auf ein Minimum heruntergedimmt. »Monatelang kommen sie ohne Fressen aus«, sagt Spengler. Dafür werden sie 10- bis 15-mal älter als ihre Verwandten an der Erdoberfläche. Es ist ein Leben in Zeitlupe.

Als Nächstes packt Cornelia Spengler einen Grundwasserflohkrebs und legt ihn in die Schale. Das possierliche Tierchen rennt am Rand im Kreis, die Kiemen flattern. »Der hat Stress«, sagt sie, »das mögen die gar nicht.« Die Stygobionten sind keine zimperlichen Geschöpfe, sonst würden sie unter den lebensfeindlichen Bedingungen nicht überleben. Allerdings sind sie wegen der sehr stabilen Lebensbedingungen auch unflexibel geworden. Seit Jahrmillionen existieren sie in einer konstanten Welt, manches Tierchen wie der Brunnenkrebs ist praktisch ein lebendes Fossil. Seit 300 Millionen Jahren besiedelt er nun schon das Grundwasser, er stammt von der Südhalbkugel, wo auch heute noch seine Verwandten vorkommen. Die einzelnen Arten wurden durch das Auseinanderbrechen der Kontinente voneinander getrennt. »Würde man einen solchen Lebensraum an der Oberfläche finden, würde er sofort unter Schutz gestellt«, mischt sich Hans Jürgen Hahn ein. Das Grundwasser sei der älteste und größte Lebensraum, zumindest auf dem europäischen Festland."

Das Grundwasser wird nicht nur durch die allgemeine Erderwärmung immer wärmer, sondern vor allem in den Städten auch durch ganz gezielten Wärmeeintrag, indem nämlich Gebäude (meist große Hochhäuser) durch Ableitung von Wärme in das Grundwasser gekühlt werden. Wodurch das Grundwasser aufgewärmt wird. Und das hat fatale Auswirkungen, gerade auch für unser Trinkwaser!



Zitat:


"Doch mittlerweile kommt der Mensch den Grundwassertieren sehr nahe. Zu nahe, wie Hahn findet. Die zunehmende Wärme im Untergrund bedrohe die Tiere existenziell, denn in den vergangenen 1,8 Millionen Jahren sei es in Mitteleuropa dort niemals wärmer als 14 Grad geworden. Langfristig könne dadurch die Trinkwasserqualität auf dem Spiel stehen, meint Hahn. Denn die Lebensgemeinschaften im Grundwasser haben eine wichtige Funktion: Sie reinigen einsickerndes Oberflächenwasser und bereiten somit das Trinkwasser auf. Die Tiere zerkleinern und zersetzen die eingetragenen organischen Stoffe, halten die Porenräume offen, fressen die sich bildenden Biofilme und regen dadurch die biologische Selbstreinigung an. Bakterien übernehmen schließlich den Hauptteil der Reinigung.

Cornelia Spengler hat ihre Doktorarbeit zum Thema Erwärmung geschrieben. Sie hat dabei untersucht, wie die Grundwasserfauna auf die Veränderung ihres Lebensraums reagieren. 26 Arten hat sie im Freiland studiert, nur zwei kamen mit den hohen Temperaturen gut zurecht. Das Gros reagierte sehr empfindlich. Schon bei 17 Grad siechten sensible Arten dahin, die meisten starben bei Temperaturen um die 20 Grad. Da die Tiere sehr träge sind, hatten sie keine Chance, weit genug zu fliehen."


Es sind also nicht nur die sichtbaren Veränderungen wie das Abholzen von Regenwäldern und das Trockenlegen von Sümpfen in den Tropen, die unsere Lebensgrundlagen berühren. Nein, auch hier wenige Meter unter unseren Füßen spielt sich eine Entwicklung ab, die für uns existenziell sein kann.
Es weiß nur kaum jemand!




Gruß
Otocinclus2

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